Corona: Leben in Trennung

Wir wurden getrennt durch ein fieses Virus. Doch die entstehende Nähe kann unerträglich sein. Gegen beides hilft Rilke.

Wir sitzen in unseren Wohnungen. Nur im direkten räumlichen Kontakt zu unseren Liebsten. Viele von uns nicht einmal zu ihnen. Wenn wir das Haus verlassen, grüßen wir uns mit gebührlichem Abstand, wo wir sonst umarmt und geherzt hätten. Wenn wir einkaufen oder gar mit der Bahn fahren, suchen wir uns Wege und Sitzplätze mit Abstand, möglichst weit weg von allen anderen. Wir sind dankbar, wenn wir Homeoffice machen können. Wir achten peinlich genau darauf, dass uns niemand zu nahe kommt. Dass wir nichts anfassen. Und vor allem niemanden.

Wir leben in Trennung.

Wir sitzen in unseren Wohnungen. Im direkten räumlichen Kontakt mit unseren Liebsten. 24 Stunden. 7 Tage. Jede Woche. Im Fernsehen immer neue Schreckensmeldungen. Wieder mehr Infizierte. Wieder mehr Tote. Die Decke fällt uns auf den Kopf. Die Kinder nerven. Die Stimmung wird gereizter. Wir schreien uns an. Manche Faust landet auf dem Küchentisch. Wenn wir nicht im Homeoffice sitzen müssen, sind wir dankbar. Wir gehen mehr spazieren als sonst. Ein bisschen raus. Raus an die Luft. Raus aus der erzwungenen Nähe.

Wir sehnen uns nach Trennung – wenigstens auf Zeit.

Wettstreit von Nähe und Distanz

Diese Situation ist für uns alle unnatürlich. Und ich merke, wie sehr schon nach so wenigen Tagen ambivalente Impulse in mir streiten: Ich sehne mich nach Körperkontakten, fröhlichen Umarmungen und Gesprächen, bei denen nicht Telefon und Webcam nur einen Bruchteil dessen vermitteln, was Präsenz ausmacht: Wärme, Geruch, Haut an Haut, den Raum gemeinsam mit unserem Sein einnehmen, Leib sein, nicht nur Stimme und Gesicht.

(Und mir geht es ja noch gut! Ich denke an all die alleine Lebenden, die keine Partner*innen und Kinder haben und die ihre Freunde gerade nicht treffen dürfen. Deren Kontakte sich in Telefonaten, Videokonferenzen und kurzen Dialogen mit Supermarktkassierer*innen erschöpfen.)

Gleichzeitig spüre ich, wie die permanente Nähe belastet: Als Familie sitzen wir aufeinander. Wäre es wenigstens Urlaub, aber der Alltag der Erwachsenen geht weiter und der der Kinder will zusätzlich organisiert werden. Man ist kaum allein. Dazu die bohrenden Fragen: Ist der Job sicher? Können wir die Miete zahlen? Trifft die Krankheit uns oder unsere Liebsten? Die Nerven sind angespannt. Wir lieben uns, wollen ruhig antworten, doch der Unterton ist zunehmend gereizt.

(Und mir geht es ja noch gut! Ich denke an all die Frauen mit Gewalterfahrungen in den eigenen vier Wänden, die jetzt Tag und Nacht mit dem Mann verbringen verbringen müssen, den sie eigentlich lieben und vor dem sie gleichzeitig panische Angst haben.)

Eine bizarre Zeit.

Rilke for the rescue!

In der aktuellen Ausgabe den Magazins Brennstoff findet sich ein Gedicht von Rainer Maria Rilke mit der bemerkenswerten Zeile:

Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung.

RAINER MARIA RILKE
Die Sonette (Klanggedichte) an Orpheus, 2. Teil, Nr. 12)

Was beim ersten Lesen verstörend wirkt, birgt doch – wie bei Rilke nicht anders zu erwarten – mehr als nur bloße Irritation.

Trennung tut weh: Die Liebenden, die sich auseinander gerissen wissen. Für immer. Oder nur für die lange Zeit bis zum nächsten Wiedersehen.

Der Einsame, der sich jede Nacht ein wärmendes Wesen ersehnt, das ihm am nächsten Tag aber wieder nicht begegnen will.

Die begeistert Mitarbeitende, die eines Tages entsetzt das Kündigungsschreiben in den Händen hält, jäh vom Mittelpunkt ihres bisherigen Lebens abgeschnitten, jäh der eigenen Wertschätzung und des Sinns fürs morgendliche Aufstehen beraubt.

Trennung. Vom Gewohnten. Vom Geliebten. Vom Begehrten. Vom Benötigten.

Doch Trennung birgt auch die andere Seite: Wo etwas Platz macht, entsteht da nicht immer neuer Raum? Oder: Damit Raum entsteht, muss da nicht immer anderes Platz machen? Auseinander gehen? Zur Seite treten?

Wir brauchen Raum

Wir sind dimensionale Wesen. Wir brauchen Raum zum Leben. Wir können nicht als Strichmännchen existieren. Unser Körper braucht Platz zum Atmen, zur Bewegung, zur Entfaltung in alle Richtungen, zur Kreativität. Wer gefangen ist, verkümmert. Wer sich nicht bewegt, erschlafft. Wir brauchen Weite.

Genauso braucht das unser Geist, unsere Seele, unser Denken und Empfinden. Wenn wir uns eingeengt fühlen, dann sitzen wir bald nur noch im dunklen Tunnel, den Blick fixiert auf das ersehnte Licht an seinem Ende. Aber das kommt nicht näher, wenn wir sitzen. Auch unsere Seele muss sich bewegen, braucht Raum zum Atmen und zur Entfaltung.

In der Trennung mag etwas sterben. Doch ohne Raum können wir gar nicht erst leben. Trennung schafft Distanz. Doch der entstehende Raum nimmt auch die Enge. Und schafft neue Möglichkeiten zur Begegnung. Jetzt oder als Vorfreude auf die Zukunft. Freiwillig. Aus freien Stücken. In neuer Qualität. Nicht gezwungen von einem kleinen, dummen Virus. Oder der Angst vor der Zukunft.

Trauert! Und hofft.

Wie in der Trennung neuer Raum entsteht, erleben wir gerade durch die vitale Kreativität, mit der wir dennoch miteinander in Verbindung bleiben: Alte Leute skypen. Teenies schreiben wieder Postkarten. Kirchen streamen nicht mehr nur ihre Gottesdienste, sondern fangen an, die Gläubigen am Geschehen zu beteiligen. Schüler tun sich zu Lerngruppen über Video zusammen. Unternehmer erfinden sich neu und probieren ungewohnte Absatzwege. Es gibt wieder Autokinos! Und Solidarität mit Bekannten und Fremden erlebt einen neuen Frühling. Diese Räume dürfen bleiben, auch wenn Corona wieder nur ein Bier ist.

Auf der anderen Seite lernen wir die Autonomie gerade ganz neu schätzen, die uns im Moment genommen ist. Dass wir normalerweise selbst entscheiden können, wann wir mit wem wieviel Zeit verbringen, ist ein hohes Gut. Und dass bewusste Zeit für uns selbst nicht die Qualität unserer Beziehungen schmälert, sondern sie im Gegenteil erhöht, ist keine neue, aber eine doch gerne vergessene Wahrheit. Trennung auf Zeit steigert die Vorfreude, uns wieder in den Arm zu nehmen. Sie lässt uns selbst wachsen, so dass wir einander wieder bereichern können. Und sie lässt uns die Zeit zusammen bewusster genießen.

Und dennoch ist unsere Situation verflucht herausfordernd: Die Angst vor der Zukunft. Das Empfinden von Enge. Der Frust über erzwungene Distanz. Die Sorge, wie die Wirtschaft wird. Ob der eigene Job überlebt. Wie lange alles dauert. Ob wir von geliebten Menschen für immer Abschied nehmen müssen. Wie die Welt nach Corona aussehen wird.

Diese Zeit ist ambivalent. Gleichzeitig schmerzhaft und zugleich Räume schaffend. Wir dürfen sie aushalten. Und dürfen sie gestalten.

Geburt

Diejenigen, die jetzt die Chancen beschwören, tun also das Richtige, aber sie tun auch gut daran, die Trauer nicht zu vergessen. Die Trauer über verpasste Begegnungen, existenzielle Sorgen, verpatzte Zukünfte. Sie ist echt und sie darf empfunden werden. Sie muss empfunden werden, um sie irgendwann hinter uns lassen zu können.

Auch diejenigen, die jetzt Traurigkeit fühlen, tun das Richtige, aber sie tun auch gut daran, die Hoffnung nicht zu vergessen. Die Hoffnung auf neue Begegnungen, auf Gespräche Auge-in-Auge, auf leidenschaftliche Umarmungen von Freunden, auf Nähe oder Distanz, frei gewählt in souveräner, persönlicher Freiheit. Auf neue Jobs, neue Möglichkeiten, eine neue Zukunft.

Wenn Rilke recht hat, dann können wir darauf vertrauen, dass sowohl die Trennung, die wir jetzt erleben, als auch die Autonomie, auf die wir wieder hoffen dürfen, letztendlich Räume des Glücks gebären. Direkt oder indirekt. Wie auch immer die für jeden uns aussehen werden.

Wir sind alle zusammen in diesen globalen Trauer- und Gestaltungsprozess geworfen. Wir wissen, das nicht alles gut wird. Dass sich vieles verändern wird. Und doch dürfen wir hoffen auf die Kinder und Enkel dieser Zeit. Auf die neuen, sonnendurchfluteten, glücklichen Räume, die diese Krise schafft.

Seht, die Türen öffnen sich schon!

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Kommentare

2 Kommentare auf "Corona: Leben in Trennung"

  1. Elisabeth Fassler says:

    Großartig geschrieben! Spricht so bewegend an, was uns jetzt alle so beschäftigt!!! Lässt die Hoffnung wachsen und zeigt neue Blickwinkel! Im wahrsten Sinn MUNTERMACHEND 🙂

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  2. hofmeisterhartwig says:

    Ich muss dir voll zustimmen!
    Dazu braucht es nicht mehr Worte.

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