Die Kirche lebt in einem Zeitalter des Übergangs: Sie rückt vom Zentrum der Gesellschaft an ihren Rand. Das soll Prof. Michael Herbst, Leiter des Instituts für Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald, diese Woche bei einem Pfarrertag in Krelingen gesagt haben, meldet idea. Ich schätze Professor Herbst, und gerade deshalb möchte ich dieser Aussage einmal widersprechen. Natürlich unter der Prämisse, dass die Meldung Herbsts Aussage mit Sicherheit verkürzt widerspiegelt.
Aber selbst wenn – dieses Gefühl ist unter Christen weit verbreitet: Gottesdienste werden immer weniger besucht, die Mitgliederzahlen sinken, Gemeinden werden zusammengelegt oder geschlossen. Und in Presbyterien und Gemeindevorständen sind „Nothaushalt“ und „Stundenkürzung“ längst keine Fremdworte mehr.
Da liegt es nahe, vom „Bedeutungsverlust“ zu sprechen und sich „an den Rand gedrängt“ zu fühlen.
Aber ist das wirklich so? Ich sage: Nein, das Gegenteil ist der Fall!
Kirche ist keine Institution, keine Organisation. Kirche sind die Menschen, die Gott suchen und sich dabei an Jesus orientieren (im Fachjargon: „Die Jesus nachfolgen“). Wenn man Kirche als Interessenvertretung versteht, als Machtblock, der als solcher in der Gesellschaft meinungsbildenden Einfluss hat, dann kann dieses Gebilde natürlich, wenn sich die Gesellschaft verändert, an deren Rand geraten. Gewerkschaften, Interessenverbände, Lobbygruppen – deren Einfluss kann schwinden. Solche Strukturen können sich von der Gesellschaft entfremden, wenn sie selbst nicht bereit sind, sich mit zu verändern. Sie werden von den dynamischen Kräften, die in einer lebendigen Welt herrschen, Schlagseite kriegen und schließlich zerbrechen.
Kirche aber – wenn sie sich richtig versteht – ist das alles nicht. Kirche sind die Menschen, die Christus lieben. Kirche, dass sind wir, bist du, bin ich, egal in welcher Organisationsform wir uns momentan behelfsweise zusammen getan haben. Die Kirche, das ist jeder Einzelne. Mit seiner individuellen Wirkung in seiner jeweils ureigenen Umgebung. Milliardenfach. Mit so vielen Möglichkeiten.
Kirche zu organisieren ist gut und wichtig. Wir brauchen Strukturen, um zu leben, zu arbeiten, unseren Auftrag zu erfüllen. Wenn wir aber Kirche zur Organisation verkommen lassen (weil wir auf die machtpolitische Wirkung schielen statt auf unsere eigentlich Aufgabe), dann sind wir wie ein Würfelzucker, der träge und behäbig in einer Tasse Kaffee schwimmt und sich partout nicht auflösen will. Dann nerven wir irgendwann denjenigen, der den Kaffeebecher in der Hand hält – so sehr, dass er den Fremdkörper aus seinem Kaffee wirft.
Wenn Kirche Würfelzucker ist, dann versteht sie sich falsch. Wenn Kirche ihrem Auftrag gerecht werden will, muss sie sich auflösen. Sie muss Teil der Gesellschaft werden, mit ihr verschmelzen, eins sein. Keine Sonderfarbe, kein Fremdkörper, der den Kaffee zur Reinheit des Zuckers bekehren will. Allerdings ein besonderer Geschmack, süß und köstlich. Ein Würfelzucker kann schnell unangenehm werden. So viel Süße auf einem Fleck. Wenn jeder Christ dort Christ ist, wo er Mensch ist, dann suchen wir nicht Macht, sondern Demut. Nicht Einfluss, sondern Barmherzigkeit. Nicht Geltung, sondern Liebe. Dann aber – und nur dann – kann Kirche nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Weil sie überall ist, mitten drin, immer spürbar und immer wirksam. Dann kann es mal weniger und mal mehr Zucker im Kaffee geben (und spätestens hier kommen wir an die Grenzen des Bildes), aber nie können wir sagen: Kirche ist am Rand der Gesellschaft. So war sie von Jesus auch nie gedacht.
Wenn wir das ein paar Jahrhunderte nicht so ganz beachtet haben, dann kann es uns ja nur Recht sein, dass die Postmoderne dabei hilfreich sein will, uns „aufzulösen“. Die große Veränderung, die uns bevorsteht, ist dann aber nicht ein Rückzugsgefecht mit dem Rücken zur Wand, sondern eine neue Selbstdefinition, getrieben durch äußere Umstände, aber in Wirklichkeit sehr heilsam. Back to the roots, sozusagen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will nicht, dass wir unsere Kirchen und kirchlichen Dachorganisationen auflösen. Sie sind gut und wichtig und ohne sie könnte die Jesus-Bewegung nicht überleben. Der Unterschied liegt in unserem Selbstverständnis als Kirchen und Organisationen: Glauben wir, die Bewegung zu sein (was nicht der Fall ist) oder dienen wir ihr – auf die Art die zur Zeit gefragt und nötig ist. Ob wir gerade als machtvoller Block wahrgenommen werden oder nicht – das spielt dabei keine Rolle. Eine lebendige Kirche ist immer mittendrin und lebt Gottes Liebe.
Kommentare
13 Kommentare auf "Die Kirche muss sich auflösen!"
Das ist ein wirklich schönes Bild. Aber ich frage mich, ob sie wirklich alles Aspekte trifft, die wir über „Kirche“ zu sagen haben. Kann man wirklich Kirche reduzieren auf einzelne, die Christus lieben oder ist nicht gerade Kirche als Gemeinschaft mehr als die Summe seiner Teile? Ich glaube, dieser missionale Impuls ist richtig (Kirche da draußen), aber er ist schon zu ergänzen dadurch, dass es eben auch eine Kontrastgemeinschaft geben muss, die die Mission befeuert und die dafür sorgt, dass der Zucker seine „Süßkraft“ nicht einbüsst. Ich bin 100% auf deiner Seite, was die Kritik an jeder Art der frommen Ghettoisierung angeht, nur ist der Auftrag Jesu auch zu schwer, als das man ihn als einzelner in seinem Umfeld leben könnte.
Zuletzt noch: ich glaube das Wot der Marginalisierung trifft es schon recht gut. Wenn man aus Ostdeutschland kommt, dann kennt man es auch gar nicht anders, als das der christliche Glauben eine Randstellung inne hat. Ich glaube aber auch, er gehört dort hin. Nicht unbedingt an den Rand des Lebens, aber an die ausgeschlossene Ränder der Gesellschaft, nicht ins Machtzentrum.
Hi Arne,
richtig, richtig. Und was du als letztes meintest: Ja, Christen gehören an die Stadtränder zu den Ausgestossenen, allerdings auch in den Machtzentren. Überall hin, eben. Um zu dienen, allerdings. Nicht, um mächtig zu sein. Zumindest nicht um der Macht willen.
So passt es dann wieder 🙂
LG,
Rolf
Kirche hat so lange überlebt, eben weil es immer Menschen gibt und gab, die sich auf Jesus Christus berufen haben, nach seinem Willen und ihm gemäß gelebt haben, und das völlig unabhängig von einer Organisationsform. Trotzdem – und das hat NICHTS mit der Struktur Kirchs zu tun – werden wir Christen in unserer Gesellschaft mehr und mehr an den Rand gedrängt. Während in anderen Erdteilen die Entwicklung ganz anders ist. Wie gehen wir in Deutschland damit um? Lösen wir uns in der Gesellschaft auf, werden mehr oder weniger unsichtbar? Oder sind wir weiterhin erkennbar, zeigen klar, was es heißt, Christ zu sein, nach Jesus Vorbild zu leben?
Hi Johannes,
denkst du, es ist in erster Linie wichtig, dass Christen zeigen, was es heißt Christ zu sein? Oder dass sie einfach Christen sind?
Das eine fokussiert darauf, den anderen zu verändern; das andere, ihm zu dienen.
LG,
Rolf
Weißt du, das gehört zusammen. Dem anderen dienen ist gut, ihn aber im Unklaren zu lassen über das, was Jesus uns weitergegeben hat, das heißt, den Auftrag von Jesus nur unvollständig ausgeführt zu haben.
Also sowohl:
Matthäus 25, 14: „Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
als auch:
Markus 16, 15: „Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.“
Hi Rolf,
dass die Kirche in jüngster Vergangenheit das Zentrum der Gesellschaft darstellte, habe ich wohl irgendwie verpasst.
Nach Professor Herbst bilden die Theologischen Fakultäten häufig noch für das „Pfarramt des 19. Jahrhunderts“ aus.
Bei der musikalischen Untermalung in vielen Kirchen fühle ich mich dann oft gar ins 17. Jahrhundert zurückversetzt… Und da ich in einem GoDi auch schon ein Lob auf die Wirkung des Evangeliums gerade mit und durch die Musik gehört habe, kann ich nur sagen, dass mir eine moderne Band wesentlich besser gefällt als eine Lobeshymne auf die Orgel. Weil mir die allgemeine Kirchenliturgie zu antiquiert erscheint, habe ich mich auf den Exodus, hinein in eine moderne Freikirche, begeben und fühle mich dort wesentlich besser aufgehoben. Solch eine starre Institution wie die Kirche verändere ich als idealisiertes, mitgestaltendes, wahrgenommenes und wertgeschätztes Kirchenmitglied nicht von heute auf morgen – wenn überhaupt…
Wenn Kirche der Würfelzucker ist… dann trinke ich meinen Kaffee lieber nach wie vor ohne Zucker, dafür mit Milch – und zwar am liebsten dort, wo Milch und Kaffee fließen.
LG
Markus
Da dürfen die Geschmäcker verschieden sein…
aber: interessant ist, was du unter „Kirche“ verstehst. Und ich würde dir empfehlen, nachzudenken über den Unterschied zwischen Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und Kirche als Institution.
Wenn Kirche Gemeinschaft der Gläubigen ist, dann ist Kaffee ohne Zucker einfach nur bitter.
Würfel oder Granulat – das spielt doch keine Rolle! Wenn das Salz der Erde süß geworden ist, ist es für seine Berufung eh untauglich.
Ob man Die Kirche nun als Gemeinschaft der Glaubenden oder als Institution sieht, bleib wohl auch Ansichtssache(vgl. . Vielleicht ist sie ein Bisschen von Beidem. Eine Institution wird jedenfalls mit zunehmender Größe unbeweglicher, und damit schwindet auch der Einfluss des Einzelnen auf das Ganze, falls man nicht gerade zu den Leitern gehört. Luther sagte: „Die Kirche muss immer reformiert werden.“. Da ich dieses in naher Zukunft mit ähnlichen Erfolgsaussichten wie Don Quijote’s Kampf gegen Windmühlen bewerte, habe ich mir einfach eine andere Gemeinschaft von Glaubenden gesucht.Da hat man ja mittlerweile die freie Auswahl.
Erstens: der verlinkte Text (wer hat den eigentlich geschrieben?) ist bestimmt kein Evangelium. Ich hab ihn nur überflogen; der Leitfaden ist aber nicht „Glaubensgemeinschaft oder Institution“, sondern „Christ isoliert ohne Gemeinschaft – geht das? Nein.“ Was man durchaus biblisch zeigen kann, denn die Gemeinschaft ist der Leib Christi, zu dem wir alle gehören, und wenn nun ein Glied sich von der Gemeinschaft abscheidet, scheidet es sich automatisch auch vom Haupt: Christus.
Wenn du auf eine Antwort die falsche Frage stellst, wird die Antwort automatisch auch falsch…
Zweitens: Die Kirche soll ja auch nicht vom einzelnen geleitet werden, sondern von ihrem Haupt: Christus. Dazu gibt es je nach Kirche verschiedene Ansätze, denen aber immer zugrundeliegt, daß der Heilige Geist die mit der Leitung betrauten Personen und Gremien führt und leitet – und mal rein im evangelischen Raum bleibend ist es mal ein bischöfliches System (nordeuropäische Lutheraner, manche Landeskirchen in Deutschland, EMK, …), mal ein synodales (manche lutherische Kirchen), mal ein presbyterial-synodales (die meisten evangelischen Landeskirchen), mal ein presbyteriales (viele evangelische Freikirchen). Letzteres System hat aber den großen Nachteil, daß über die Grenzen der Ortsgemeinde keinerlei Verbindlichkeit besteht. Man bleibt unter sich, unter Leuten, die das alles genauso sehen wie man selbst, und stellt sich nicht der Spannung, daß seit Ostern verschiedene Verständnisse desselben Ereignisses unterwegs sind, ohne das Ganze in Frage zu stellen. Da wird dann auch eine Gemeinde Einzelstück ohne Verbindung zum Leib Christi…
Schließlich und endlich noch ein Link:
Luther hat das nämlich genausowenig gesagt wie Calvin, dem man es auch in die Schuhe schiebt… aber das Anliegen dahinter ist eben nicht „Kirche nach meinem Geschmack machen“. Nicht du sollst die („deine“) Kirche formen, sondern du sollst dich von ihr, als dem Leib Christi, der die Gemeinschaft der Gläubigen ist, formen lassen, nach Maßgabe des Hauptes, welches ist Christus, der Herr. Denn es ist SEINE Kirche.
Schönes Plädoyer für die Kirche… verstehe ich fast so, als wäre sie allein seligmachend. Wäre sie das, hätte es wohl nie eine glaubhafte Abtrennung der ev. von der kath. Kirche geben können. Und wenn mich der Herr in seiner Kirche beispielsweise durch Orgelmusik formen möchte, mag das manche Zielgruppe ansprechen, mich jedoch nicht. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass der Glaube an den Herrn und nicht die Zugehörigkeit zu einer Kirche selig macht. Ich habe nichts gegen Glaubensgeschwister, was mich stört ist die in vielen Ortskirchen organisierte allgemeine Praxis des Glaubenslebens im GoDi. Die Orgel ist dafür nur EIN Beispiel.
Wenn du das so verstehst, muß es an dir liegen.
Allein seligmachend ist Christus, das Haupt der Kirche. Und keine Institution-Kirche kann für sich glaubhaft machen, identisch mit der Kirche Jesu Christi zu sein. Aber jede christliche Gemeinde ist Teil des Leibes Christi, solange sie sich in ihn einfügt und eben nicht für was besseres hält als die anderen. Und wie der einzelne des Korrektivs der Gemeinde bedarf, um nicht zum Sektierer oder Säulenheiligen zu werden, so bedürfen auch die Gemeinden des Korrektivs der weltweiten Kirche. Anderenfalls werden sie Sekte.
Aber warum hebst du jetzt auf Details wie Orgelmusik ab, wo du eben noch
eine gesamte Kirche nach deinem Gusto haben wolltest? Von der Orgel hatte doch niemand geredet?
Kirche, die sich zuerst als Organisation sieht, kann man vielleicht vergleichen mit der Gemeinde in Sardes in den Sendschreiben in der Offenbarung („dass du den Namen hast, dass du lebst, und bist tot“). Kirche, die sich zuerst als Gemeinschaft der Nachfolger Jesu sieht, kann man vielleicht mit der Gemeinde in Philadelphia vergleichen („denn du hast eine kleine Kraft, und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet“).
http://unbound.biola.edu/index.cfm?method=searchResults.doSearch&version=german_elberfelder_1871_ucs2&Book=66N&from_chap=3&to_chap=3
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