Warum gibt es Leid auf dieser Welt? Wie ist es möglich, dass Gott sagt, er sei die Liebe und allmächtig – und er uns gleichzeitig auf einen Planeten setzt, der von vorne bis hinten voll mit Leid ist? In der sowohl wir Menschen uns gegenseitig die Köpfe einschlagen als auch die Erde selbst sich gegen uns richtet?
Das Leid, das Menschen anderen Menschen antun, ließe sich noch halbwegs mit unserer gottgeschenkten Freiheit erklären, die wir zum Guten und zum Bösen benutzen können. Und mit der Sünde, die deswegen Raum bekommt. Für ein Erdbeben oder einen Taifun aber kann kein Mensch etwas. Und nicht zuletzt muss jedes Leben auf der Erde irgendwann enden, um neues Leben zu ermöglichen. Geboren werden und Sterben ist Teil des Kreislaufs des Lebens. Nur wenn das Samenkorn in die Erde fällt und stirbt, bringt es neues Leben hervor. Trauer und Leiden sind jenseits böser Taten und menschlicher Fehler ein fester Teil von Gottes Schöpfung.
„Das Ziel ist nicht Perfektion…“
Über diese Frage haben sich schon zahllose Menschen den Kopf zerbrochen und es gibt ebenso zahllose Antwortversuche. Dessen bin ich mir bewusst. Ich bin aber neulich über ein Zitat gestolpert, das für mich eine ganze Menge Fragen beantwortet hat. Das Zitat ist von E. Kent Rogers aus seinem Buch „12 Miracles of Spiritual Growth“ und hat mich auf den Gedanken gebracht, die Frage nach dem Leid in unserer Welt einfach einmal herum zu drehen: Was wäre, wenn es in der Welt kein Leid gäbe? Wenn alles perfekt, fehlerlos, eitel Sonnenschein, wunderbar, ohne Gefahr, ohne Trauer, ohne Schmerzen, ohne … Leid wäre?
Das Zitat lautet:
Das Ziel ist nicht Perfektion. Das Ziel ist Liebe. … Es ist nicht notwendig, perfekt zu sein, um lieben zu können. Und noch mehr: Gäbe es nicht unsere eigene Unperfektheit und die der anderen – wir könnten gar nicht lieben. … Wenn wir den anderen trotz ihrer Macken und Fehler dienen, dann erst wird Liebe möglich.
Und da hat etwas in meinem Kopf Klick gemacht! Könnte das sein? Könnte es sein, dass die Fehlerhaftigkeit dieser Welt, die wir so gern als „gefallene Schöpfung“ geringachten, überhaupt erst die Grundlage dafür liefert, dass wir uns gegenseitig lieben können? Dass Liebe existieren kann? Könnte es in einer perfekten Welt keine Liebe geben? Basiert Liebe auf der Unperfektheit der Schöpfung und ist damit alles, was uns an Leid und Problemen zustoßen kann gar nichts Schlechtes, sondern Notwendigkeit?
Das höchste Gebot
Gottes Wunsch an uns und sein höchstes Gebot ist nicht, dass wir fehlerfrei leben sollen, sondern dass wir Gott und den Nächsten lieben. Würde das erklären, warum die Schöpfung nicht fehlerfrei-statisch angelegt ist, sondern dynamisch-wild, mit Erdbeben, Wirbelstürmen und unser aller Tod am Ende unserer Tage? Mit menschlichem Versagen, also mit Lüge, Betrug, Verrat, Enttäuschung, Verletzung, Mord und allem anderen Bösen zu dem wir alle fähig sind? Ist Liebe ohne die Existenz von Fehlern, Schuld und Leid unmöglich?
Versteht mich nicht falsch: Ich meine nicht, dass der Mörder sagen kann, er gebe nur der Liebe eine Chance. Schuld bleibt Schuld und muss aus der Welt geschafft, bekämpft und verziehen werden. Und trotzdem ist unser Glück auf geheimnisvolle Weise davon abhängig, dass nicht alles glatt läuft. Schwer verdauliche Gedanken.
Die Liebe aber…
Klassischerweise unterscheidet man ja drei Arten von Liebe: Eros, Philia und Agape. Während Eros die körperlich-erotische Liebe ist, das knisternde Geheimnis, dieser wundersame Magnetismus zwischen zwei Menschen, der uns betört, verrückt macht, einander bindet und uns miteinander verschmelzen lässt; und Philia die Freundesliebe, die Hinwendung, das Vertrauen, Partnerschaft und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit; so ist Agape sicherlich die höchste, vielleicht die reinste Form der Liebe, frei von eigenen Interessen, selbstlos, die sich einsetzt für den anderen, sich ausgießt, sich (auf)opfert, ohne dass es sich der andere mir gegenüber verdient hätte. Agape ist, wenn ich mich jemandem selbstlos, unverdient und ohne Gegenleistung zuwende.
Denn gebe ich jemandem das, was ihm zusteht, dann ist es keine Liebe, sondern sein Recht. Hat mein Sohn sein Zimmer aufgeräumt und bekommt dafür einen Euro, dann ist das nicht Agape, denn er hat sich den Euro ja verdient, er steht ihm zu. Hat er es aber nicht geschafft und ich setze mich mit ihm hin, räume mit ihm zusammen sein Zimmer auf und gebe ihm dann den Euro – dann ist das Agape. Denn er hat es sich nicht verdient. Hat jemand den ganzen Tag hart in einem Weinberg gearbeitet und er bekommt abends dafür den vereinbarten Lohn, dann ist das keine Liebe des Verwalters, sondern Verdienst des Arbeiters. Kommt ein anderer erst mittags dazu, und arbeitet den halben Tag hart, bekommt aber den gleichen Lohn wie der Erste, dann ist das ein Akt der Liebe, weil der Besitzer des Weinguts weiß, dass auch der Zweite seine Familie ernähren muss. Teilt ein Reicher sein Brot mit einem anderen Reichen, dann ist das keine Agape, höchstens Philia, vielleicht auch einfach Berechnung, weil er sich eine Gegenleistung erhofft. Teilt ein Reicher sein Brot mit einem Armen, der am Straßenrand sitzt und um Almosen bittet und keine Gegenleistung bringen kann – dann ist das Liebe.
In einer Welt, in der alles gut und fehlerlos wäre, gäbe es niemanden, der am Straßenrand sitzt und um Almosen betteln muss. Niemand, der nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll. Niemand, der versagt. Niemand, der Hilfe von anderen braucht. Wäre alles gut, wären wir immer stark, immer fehlerlos, könnten wir immer volle Leistung geben und würden nie scheitern, geschweige denn böse Gedanken hegen, dann hätten wir letztendlich keinen Grund, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Weil wir uns selbst genügen würden. Weil wir keine Schwächen hätten. Weil wir niemanden bräuchten, um unsere Schwächen auszugleichen. Auch das Fehlen des Anderen im eigenen Leben ist ein Fehlen, das in einer perfekten Welt nicht vorkommen kann. Jeder hätte einen Partner, aber der würde sich eher zugeteilt anfühlen als erobert. Man ist halt zusammen, hat Sex und verdrückt Nutellabrötchen zum Frühstück. Aber es wäre ein starres Nebeneinander. Echte Liebe entwickelt und beweist sich erst, wenn etwas nicht mehr so ist, wie es sein sollte – und wir den anderen trotzdem … lieben.
Gott, der Erzähler unseres Lebens
In seinem Buch „Eine Million Meilen in tausend Jahren“ beschreibt Donald Miller („Blue like Jazz“) was gute Geschichten ausmacht: „Eine ausgezeichnete Geschichte handelt von einem Menschen, der etwas möchte und Schwierigkeiten überwindet, um es zu bekommen“, schreibt er.
Donald Miller entwirft das Bild von Gott als einem Schriftsteller, der seine Geschichte mit uns Menschen schreibt. Sehr bewusst – aber weit entfernt von einem Diktat, wie es die Prädestination lehrt, also der Annahme, dass Gott bereits einen festen Plan für jeden von uns hat und wir gar nicht anders können, als diesen auszuführen. Nein, Gott schreibt unser Leben wie eine gute Geschichte und lässt seinen Geschöpfen Raum zur Entwicklung.
Mir gefällt dieser Gedanke. Mein Bruder – er ist vor einigen Jahren gestorben – war Schriftsteller und hat unzählige Romane geschrieben. Eines Tages erzählte er mir, dass seine Figuren auf wundersame Weise ein Eigenleben hätten. Natürlich hat er sie sich erdacht und mit seiner Tastatur erschaffen, aber trotzdem machten sie oft genug, was sie wollten. Er schreibt ein Kapitel und möchte es auf eine bestimmte Weise enden lassen, doch es geht nicht. Die Charaktere verhalten sich anders als erwartet, die Geschichte entwickelt sich anders, ohne dass er als Autor wirklich Einfluss darauf hätte. Das klingt ziemlich verrückt. Aber viele Autoren haben diese Erfahrung gemacht. Auch Donald Miller bestätigt sie. Der Schriftsteller hat als Schöpfer und Autor der Geschichte nur einen begrenzten Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse.
Das Bild gefällt mir deswegen so gut, weil Gott darin eine aktive Rolle mit uns, seinen Geschöpfen, spielt, aber uns trotzdem nicht der freie Wille zur Entscheidung genommen wird. Und weil Gott eine ausgezeichnete Geschichte schreiben will – eine, die auf ein Ziel hinführt und Sinn macht, ohne, dass alles vorgegeben wäre. Eine Geschichte, in der wir Protagonisten etwas wirklich wollen und durch Schwierigkeiten gehen, um es letztendlich zu bekommen.
Vielleicht sind wir alle Figuren in Gottes Geschichte mit der Welt. Und vielleicht kann keine gute Geschichte entstehen, wenn es keine Schwierigkeiten gibt. Und keine Liebe, wenn wir nicht unperfekt wären – und deshalb liebenswert.
Die richtige Frage
In Johannes 9 antwortet Jesus auf die Frage der Jünger, warum über einen bestimmten Menschen Leid gekommen ist, etwas eigenartiges: Nicht seine eigene Schuld (wie man früher häufig glaubte) noch die seiner Eltern sei der Grund für sein Leid, sondern er sei krank, damit Gottes Macht an ihm sichtbar würde. Damit meint Jesus dessen Heilung, die er im Anschluss an diese Worte sofort in Angriff nimmt. Aber trotzdem klingt es in unseren Ohren sehr befremdlich, wenn ein Mensch ein halbes Leben bitter leiden muss, nur damit Jesus mal eben ein Wunder vollbringen kann. Wer ist nicht schon über diesen Vers gestolpert?
Wenn wir aber in die Gleichung einsetzen, dass Gott die Liebe ist und Jesu obige Antwort nicht zur Einzelauskunft reduzieren, sondern als globale Wahrheit hören, dann lesen wir dort plötzlich etwas ganz anderes, nämlich: Dieser Mensch in seinem Leid ist eine Aufgabe für uns alle. Unser Job ist es, ihn zu lieben und sein Leid so gut wie möglich abzufangen. So wie bei allem Leid in unserer Welt nicht die Schuld des Betroffenen das Problem ist, sondern unser aller Selbstsucht und Ignoranz, kurz: weil wir keine Liebe zeigen. Gleichzeitig aber wird es durch das Leid erst möglich, selbstlose Nächstenliebe zu üben. Und damit Gottes Auftrag zu erfüllen.
Letztendlich lautet die Frage also nicht: „Warum gibt es Leid auf der Welt?“, sondern: „Warum ist die Welt nicht perfekt und fehlerlos?“ Und die Antwort darauf lautet ganz einfach: Weil wir uns sonst nicht gegenseitig lieben könnten. Wenn wir uns aber gegenseitig lieben, dann ist die Welt … perfekt.
Kommentare
17 Kommentare auf "Warum lässt Gott Leid zu? (Ein neuer Antwortversuch auf die klassische Frage)"
Hallo Rolf,
ich finde es klasse, dass Du andere so an Deinen Gedanken teilhaben lässt. Ich bin mir ebenso sicher, dass Gott gerade unsere Unperfektheit und Schwäche gebraucht. Unsere Liebe – trotz allem – ist ein mächtiges Zeichen des Wirkens von Gottes Geist in unserem Leben.
Trotzdem meine ich, dass Du in Deinen Gedanken einen Fehler hast. Gott wird einmal eine perfekte Welt ins Leben rufen, wo er selbst ohne Abstriche alles erfüllt. Er wird das Licht und alles in Allem sein (Offenbarung 21,23; 1. Korinther 15,28). „Es wird keinen Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine Quälerei mehr“ (Offenbarung 21,4) – aber die Liebe! Denn Gott ist die ultimative Liebe (1. Johannes 4,16), und die Liebe bleibt (1. Korinther 13,8.13). Es gibt also eine perfekte Welt – und sie ist auch deshalb perfekt, weil sie ganz von Liebe erfüllt ist.
Friede mit Dir
Julian
Heute, am Tag des Kaffees viele gute Gedanken, lieber Rolf.
Die für mich viel Sinn ergeben.
Die Frage nach dem oft übergroßen Leid vor allem an und von Kindern nur unbefriedigt lösen.
Mittlerweile bin ich an dem Punkt angelangt, mich mit der Frage nach dem Sinn des Leides nicht mehr auseinander zu setzen.
Bin darin angekommen, dem Leid die Liebe entgegen zu setzen.
Die für mich nicht nur aus Gottes-und Nächstenliebe besteht.
Auch die Liebe zu mir selbst ist ein wichtiger Bestandteil gesund gelebter Liebe.
Menschen in Leiderfahrung sind sehr oft Menschen, deren Leben tiefe Schaum und/oder Trauer erfahren hat.
Auch mein Leben weiß davon zu berichten.
Respekt, Wertschätzung, Annahme und die Worte meines Gottes, die einst aus Aarons Mund erklangen, sind mir Hilfe in all dem Leid um mich her. Und auch dem eigenen:
“ Der Herr segne dich und behüte dich.
Der Herr läßt seine Augen freundlich auf dir ruhen.
ER schenkt dir Frieden. “
Diesen Wunsch schenke ich auch heute dir, lieber Rolf.
Darüber hinaus allen, die mit gebeugtem Kopf in Leiderfahrung durch ihr Leben gehen.
Gott schaut liebevoll auf uns.
Auch und gerade im Leid.
Danke, lieber Kaffeemitgeniesser
Inge
Der hiesige Leseplan schlägt unter anderem Ps. 148 für heute vor… auch Hagel und Katastrophen erfolgen nach Gottes Plan!
Es reiht sich ein in deine Gedanken, finde ich.
…und alles geschieht zur Verherrlichung Gottes!
Vielen Dank Rolf für deine guten Gedanken, sie sind sehr plausibel. Kaisercafé: du schreibst richtig von einer perfekten Welt, aber die haben wir hier noch nicht, sondern hier ist die Vorbereitung auf die nächste. Da werden aber Jesus und Gott präsent sein und das ist etwas ganz anderes.
Nein, das ist nicht etwas anderes.
Erstens behaupten Christen doch immer wieder, Jesus und Gott seien auch jetzt und hier präsent,
und zweitens schrieb Rolf, in einer perfekten Welt gäbe es keine Liebe.
Ich denke Gott möchte uns durch Leiden zu besseren Kindern Gottes machen.
Wen der Herr lieb hat den züchtigt er… Andererseits hat sich der Mensch durch den Sündenfall die Probleme auch selbst eingebrockt… Also 50/50 in der Verantwortung oder doch eher 70/30 oder gar 10/90. Ich denke mit dieser Fragestellung kommt man immer nur begrenzt vorwärts in seinem Glaubensleben.
1) Vollkommenheit, Perfektion ist steril, statisch, leblos und daher weder eine attraktive Vergangenheit (Schöpfung), noch eine erstrebenswerte Zukunft (eschatologisches Ziel).
2) Liebe braucht, um sich zu entfalten und in ihrer wahren Qualität zeigen zu können, die Un-Perfektion als Gegenüber.
Damit frühstückst du explizit und implizit die Aseität des dreieinen Gottes. Die innertrinitarische Liebe fungierte von Ewigkeit her in einer Art Vakuum, weil ihr das Gegenüber, das Objekt der Un-Perfektion fehlte.
Sie war quasi unterfordert und benötigte zu ihrer wahren Entfaltung die Erschaffung eines (unvollkommenen) Universums, namentlich des (sündhaften) Menschen.
Durch eine solche Korrelativität zwischen Gott und dem Menschen verschwimmt die Schöpfer-Geschöpf Unterscheidung.
Grundlage nicht nur des biblischen Theismus, sondern jeder schlüssigen Epistemologie und somit auch jeder Wissenschaft, ist jedoch die Voraussetzung des absolut selbstbestimmten, selbständigen, von allen Faktoren und Entitäten außerhalb seiner selbst unabhängigen dreieinen Gottes.
Ohne diesen absolut vollkommenen, unabhängigen Gott als Grundvoraussetzung ist unser Denken unweigerlich der Tendenz zum Relativismus und Nihilismus ausgeliefert.
Boah, Christian, Du kennst Worte!
Würdest Du Deinen Kommentar nochmal neu formulieren, damit ihn mehr Leser verstehen können? Oder wenigstens nur für mich, bitte.
Ich bitte um Entschuldigung. Die ersten beiden Sätze (1. und 2.) sind Zitate aus Rolfs Beitrag.
Ich argumentiere anschließend, dass Gott keineswegs Unvollkomenheit als Gegenüber braucht, um seine Liebe unter Beweis zu stellen und sich somit quasi „zu verwirklichen“; denn der dreieine Gott der Bibel ist in sich absolut unabhängig und selbstbestimmt. Seine Liebe war von Ewigkeit her innerhalb der Dreieinigkeit wirksam, so dass er frei und ohne Notwendigkeit ein vollkommenes Universum erschaffen konnte, wie Genesis berichtet.
Danke, und nichts für ungut 🙂
Ich kann das z.T nachvollziehen, schon deshalb, weil ich nicht weiß, was sonst an der christlich ersehnten Ewigkeit so schön sein sollte (da sonst dort entweder auch Leid bestehen müsste, oder aber die Liebe fehlen würde).
Aber wodurch kommst Du da drauf: „Seine Liebe war von Ewigkeit her innerhalb der Dreieinigkeit wirksam“?
Die drei Personen der Dreieinigkeit lieben sich gegenseitig mit vollkommener Liebe.
Klingt schön, aber stellt mich trotzdem irgendwie nicht zufrieden.Denn das würde doch bedeuten, dass Liebe ohne Leid keinen Bestand hat. Und das würde bedeuten, dass das Leid genauso wie die Liebe Ewigkeitswert hat. Und es also auch im Himmel Leid gibt. Das glaube ich aber nicht! Stattdessen glaube ich, dass wir nicht perfekt sind und auch im Himmel nicht perfekt sein werden, weil wir dadurch aufeinander angewiesen bleiben und somit Liebe fließen kann. ABER: Himmel und Erde unterscheidet, dass die Erde nicht nur nicht perfekt ist, sondern irgendwie außer Kontrolle geraten ist. Wenn Gott aber irgendwann die Kontrolle über alles hat, wird das die Welt zwar nicht perfekt machen, aber dennoch wird Leid nicht mehr sein. Oder anders: Wir werden zwar immer noch Bedürfnisse haben, aber diese Bedürfnisse werden gestillt werden. Ich hab mir an anderer Stelle schonmal etwas ausführlicher dazu Gedanken gemacht, siehe
Mir geht es ähnlich wie Benjamin. Die Gedankengänge sind durchaus interessant, klingen aber letztlich wie ein Lied, das nicht auf der Tonika, sondern auf die Subdominante endet. Von Bach wird gerne kolportiert, dass er diesen Zustand nicht ertragen konnte – das ist es auch in der Tat kaum.
Ähnlich wie Inge stelle ich mir die Theodizee-Frage selber eher selten, vielleicht auch deshalb, weil ich mir letztlich nur von Gott selbst eine befriedigende Erklärung erhoffe, vermutlich aber nicht mehr in dieser Welt (denn die hat nicht mal Hiob bekommen – wie kann ich mich mit ihm vergleichen?). Auch mir fiel in diesem Zusammenhang gleich der Anfang von Offb. 21 ein:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“
Letztlich ist eine Welt ohne Leid eben doch das große Ziel – und lt. 1. Kor. 13 haben wir auch die Verheißung, dass Glaube, Liebe und Hoffnung bleiben. Das Leid hingegen hat in meinen Augen nie einen Sinn in sich selbst und wird genau deshalb nicht bestehen bleiben – zum Glück. ABER: Das Leid hat nicht bei wenigen Glaubenswachstum ausgelöst, ganz im Gegensatz dazu bewirkt dies ein „reibungsloses Leben“ meist nicht. Leid kann den Charakter einer Prüfung haben – vielleicht genau deshalb ist Gott bei unserer gegenwärtigen Schöpfung auch das „Risiko“ des Sündenfalls eingegangen, indem er bewusst einen „verbotenen Baum“ geschaffen hat. Wie es scheint hat er das zeitlich beschränkte Verweilen in einer gefallenen Welt als Vorbereitung für die Ewigkeit als notwendig empfunden, ebenso wie die Kreuzigung seines Sohnes Jesus notwendig war, um diesen Zustand wieder zu beenden. Und last but not least würde ohne das gegenwärtige Leid die oben bereits genannte wunderschöne Zeile nicht in der Bibel stehen: „…und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“. Genau die macht – neben der Opferung seines Sohnes – eben das einzigartige Wesen Gottes aus.
Den Gedanken der nicht perfekten Welt finde ich überzeugend. Perfektion ist etwas Abstraktes, Mathematisches. Eine heute perfekte Welt würden wir morgen ändern, weil sie uns langweilig würde.
Leid als Auftrag zur Liebe halte ich auch für das richtige Verständnis. Für die Theodizee-Frage kann das meiner Meinung nach aber nur eine Teillösung sein. Den ganz großen Beispielen (Erdbeeben von Lissabon, Auschwitz) wird man damit nicht gerecht und selbst im Privaten würde ich so nicht immer ansetzen wollen.
Zitat: „Eine heute perfekte Welt würden wir morgen ändern, weil sie uns langweilig würde.“
So wie die von Christen erhoffte perfekte Ewigkeit also? (sorry für den Zynismus)
Zitat: „Den ganz großen Beispielen […] wird man damit nicht gerecht “
Hm. Gerade dem Erdbeben von Lissabon wird man doch durch Rolfs Ausführungen gerecht. Wie Rolf in seinem ersten Absatz angedeutet hat, betreffen seine Gedanken doch gerade die von Menschen unverschuldeten Dinge.
Lieber Rolf.
Deine überlegte, sachliche und vorsichtige Art, dieses Thema zu behandeln, gefällt mir sehr!
Wenn ich dieses uralte Thema irgendwo anspreche, reduzieren meine Gesprächspartner die Sachlage meist schnell auf das durch uns Menschen erwirkte Leid. Dann kommt schnell die Freiheit des Menschen und der Sündenfall ins Spiel. Dass aber „die Erde selbst sich gegen uns richtet“, wird gerne unterschlagen. Das macht mich immer ganz kirre, weil das für mich der springende Punkt ist.
Du aber sprichst genau dies zu Beginn Deines Textes freizügig an. Das hat mir gut gefallen, weil es zeigt, dass Du viel Wert auf Sachlichkeit legst anstatt auf Polemik. Danke dafür. Das habe ich bei meiner Internetrecherche heute nicht oft erfahren!
Ich habe Deinen Text mit Interesse gelesen und war beeindruckt davon. Dennoch kann ich Deine Aussagen nicht ganz teilen.
Da ist
1. die schon mehrfach angesprochene Ewigkeit, die nach christlicher Vorstellung doch perfekt sein soll. Wo soll da dann Platz für die Liebe sein?
2. Auch Agape hat in meinen Augen einen Eigennutz. Oder anders gesagt: Nächstenliebe ohne Hintergedanken gibt es nicht. Mag sein, dass wir Menschen etwas oder gar uns selbst für andere opfern. Doch sind wir dann nicht getrieben von der Sucht nach dem Gefühl, selbstlos gewesen zu sein? Oder können wir vielleicht einfach nicht damit leben, uns selbst vorwerfen zu müssen, nicht geholfen zu haben? Vor diesem Hintergund ist auch Agape purer Eigennutz.
3. Ich schaffe es einfach nicht, jemandem, den es hart getroffen hat, zu sagen: „Denke daran, dass durch Deinen Zustand erst die Liebe in der Welt sein kann.“ Das mag meine eigene Unfähigkeit sein, aber ich schaffe es nicht, das irgendjemandem zu sagen; nicht dem Patienten, der im Schwimmbad einen Herzinfarkt hatte und jetzt im Koma liegt, nicht dem Wanderer, der durch Steinschlag schwer am Kopf verletzt und dadurch geistig behindert wurde, nicht dem depressiven Selbstmörder oder auch nur der Fliege, die vor meinen Augen lebendig von einer Wespe entflügelt wurde. Kannst Du das?
Ich fühle mich durch diese Frage eher genötigt, meine Grundannahmen gewaltig in Frage zu stellen, also entweder die Existenz, die Allmacht oder die Liebe Gottes.
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