Über die elf Thesen des Zukunftsteams der EKD wurde viel diskutiert – und sie haben dabei viel Schelte abbekommen: Zu hochkirchlich, zu progressiv, zu zurückhaltend, zu weitgehend – je nach Standpunkt und Erwartung. Es war für das Z-Team der EKD keine leichte Aufgabe, die Zukunft der evangelischen Kirchen ausgeglichen und trotzdem nach vorne blickend zu entwerfen. Schier unmöglich aber war, es allen Recht zu machen.
Fast zeitgleich hat ein ganz ähnliches Papier die katholische Welt aufgewirbelt: Die Instruktion über die pastorale Umkehr der Pfarrei landete aus Rom in den hiesigen Diözesen und wurde prompt in den sozialen Medien und von so manchem Bischof in der Luft zerrissen. Zu priesterzentriert, rückschrittlich, ein Schlag für alle Laien, die sich in der katholischen Kirche die Beine ausreißen, damit angesichts des eklatanten Priestermangels überhaupt noch etwas läuft.
Bei aller Kritik, die auch berechtigt sein mag, fällt ein Aspekt auf, den beide Papiere gemeinsam haben – und der ein positives Bild der Zukunft erstrahlen lässt. Ein Bild, das gleichzeitig motiviert und entspannt. Ein Bild, wie es gehen könnte.
Dieser Aspekt irritiert beim flüchtigen Lesen der Texte, weil er in sich widersprüchlich zu sein scheint: Keines der Papiere macht nämlich Anstalten, die Parochie abzuschaffen, also die feste Zuordnung von Menschen zu einer Gemeinde oder Pfarrei. Und gleichzeitig werden in bunten Farben mögliche Gestalten von Gemeinde gemalt, von der eine Gemeinde und erst recht ein einzelner Priester oder Pfarrer völlig überfordert zu sein scheint.
Unter Rückgriff auf Gaudium et spes schreibt Rom:
Von dieser heiligen Unruhe getrieben vermag die Kirche, „die ihrer eigenen Tradition treu und sich zugleich der Universalität ihrer eigenen Sendung bewusst ist, (…) sich mit mannigfachen Kulturformen zu vereinen. Diese Gemeinschaft bereichert sowohl die Kirche als auch die verschiedenen Kulturen“. Die fruchtbare und kreative Begegnung zwischen dem Evangelium und der Kultur führt zu einem wahren Fortschritt: einerseits inkarniert sich das Wort Gottes in die Geschichte der Menschen und erneuert sie, andererseits „kann die Kirche (…) bereichert werden und sie wird es tatsächlich auch durch den Fortschritt des gesellschaftlichen Lebens“, um so die ihr durch Christus anvertraute Sendung zu vertiefen, um sie besser in der Zeit, in der sie lebt, zum Ausdruck zu bringen.
Das evangelische Papier steht diesem Anspruch in Nichts nach:
Zukünftig werden Initiativen und Impulse gefördert, die Individualisierung ernst nehmen, unterschiedliche Gemeinschaften in ihrer spirituellen Entwicklung stärken und verschiedene Formen kirchlicher Bindung und Zugehörigkeit ermöglichen.
Den einen leuchten bei solchen Worten die Augen, den anderen tritt der Angstschweiß auf die Stirn, ist es doch für viele Verantwortliche schon jetzt unmöglich, alle Anforderungen einer schrumpfenden Kirche mit weniger Personal aber gleichbleibend hoher Aufgabendichte zu erfüllen. Wie dann auch noch differenzieren? Wie dem hohen Grad an Individualität in unserer Gesellschaft gerecht werden?
Beide Papiere lassen diese Spannung bestehen, was zunächst verwundert. Wenn wir aber ganz genau hinsehen, dann erheben die Autor*innen diese Spannung sogar zum Prinzip. Ganz bewusst werden die hohen Erwartungen an zukünftige, individuelle und kulturell kontextualisierte Formen von Kirche neben die bewährten und im besten Sinne „typischen“ Formen evangelischer bzw. katholischer Frömmigkeit gestellt. Nicht davor. Und nicht dahinter.
Bewährtes und Neues sollen nach dem Willen der beiden Papiere Seite an Seite, Hand in Hand bestehen, wachsen, sich gegenseitig und unsere Gesellschaft bereichern. Die Kirchen im britischen Königreich kennen das seit langem unter dem Begriff „Mixed Economy“, hierzulande wird gerne der Begriff „Mischwald“ verwendet. Gemeint ist immer dasselbe: Frische, unkonventionelle oder völlig verrückte Formen von Kirche dürfen neben der bewährten Parochie bestehen und wachsen – oder sind in eine neue Form der Parochie integriert. Denn der Text aus Rom sieht die Pfarrei der Zukunft nicht als ein begrenztes (und begrenzendes) Territorium, sondern als ein „existenzielles Territorium“.
Das ist nichts Geringeres als das Netz unserer Beziehungen, Identitäten und Orientierungen. Woher wir kommen und wo wir wohnen sagt heute nichts mehr darüber aus, zu welchen Menschen, Institutionen und letztlich auch Kirchen wir uns zugehörig fühlen. Unser Leben ist flexibel geworden. Wir üben nicht mehr den Beruf unserer Eltern aus. Kinder aus traditionellen Arbeiterfamilien können studieren. Wir leben in Patchworkfamilien. Wir können in einem Stadtteil wohnen, im nächsten zum Gottesdienst gehen und in einem ganz anderen den Frauenkreis leiten. Wir können sogar als Hamburger Fans von Werder Bremen sein (das aber nur mit viel Mühe und Not).
Wie soll das denn gehen, fragt so Manche*r? Wie sind die Parochie mit ihrem Territorialanspruch und gleichzeitig davon unabhängige Formen auf demselben Territorium denkbar, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu geraten? Auch in der Antwort darauf sind sich beide Papiere einig: Mit einer Prise Selbstlosigkeit, einer Menge Achtsamkeit für die Menschen um uns herum und mit einer gehörigen Portion Mut, über unseren bisherigen Horizont zu blicken. Vor allem aber braucht es ein Zusammenspiel von zwei Dingen, die sich in der Vergangenheit gerne mal widersprochen haben: Der kreativen Energie vor Ort und dem bewussten Segen der Kirchenleitung.
Britische Kirchen machen seit Jahrzehnten gute Erfahrungen mit dem Mischwald aus traditionellen und frischen Ausdrucksformen von Kirche. Unzählige Christ*innen in den Städten und Dörfern beschreiten neue Wege nah an den Menschen – mit dem expliziten Segen der traditionellen Struktur und damit einer großen Freiheit zum Experimentieren und auch zum Scheitern. Seit einigen Jahren inspiriert diese Grundhaltung auch im deutschsprachigen Raum die ökumenische Fresh X-Bewegung, die Erprobungsräume einiger Landeskirchen und die lokale Kirchenentwicklung in den Bistümern. Von einzelnen Projekten in Cafés oder Yogastudios bis hin zu ganzen Profilgemeinden gibt es inzwischen unzählige Initiativen, die schon experimentell leben, worin das Z-Team der EKD und die Instruktion aus Rom die Zukunft der Kirche sehen: Die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit ernst nehmen. Sowohl diejenigen, die sich in der traditionell geprägten Kirche wohl fühlen als auch diejenigen, die damit wenig Berührungsfläche haben.
Beides kann und darf nebeneinander Platz haben. Und beides darf gedeihen und ein neues, begeisterndes Bild von Kirche prägen: dialogisch und partnerschaftlich gelebter Glaube – überzeugend, weil geistliche, diakonische und gesellschaftliche Aspekte der Nachfolge Jesu Christi zusammenfließen.
Wenn wir diesem Impuls der Papiere folgen, dann können wir unsere Ängste davor ablegen, das Gewohnte zu verlieren oder an selbiges gekettet zu bleiben – je nach Perspektive. Dann können alle dort wirken, wohin sie sich von Gott gesendet wissen. Dann können wir fröhlich mit den Menschen arbeiten, die uns anvertraut sind. Und die Liebe Gottes spürbar weitergeben. Ist nicht das letztlich unser Auftrag?
Dieser Artikel ist bei Zeitzeichen erschienen.
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